Gruppendynamik

Im Verlauf meines bisherigen Berufslebens war ich nicht immer nur der "dumme kleine Angestellte", sondern hatte vielmehr in bislang drei Positionen
auch Personalverantwortung zu tragen - maximal für eine Gruppe von zwanzig Leuten. Wie man mir von höherer Stelle mitgeteilt hat, machte ich meine
Sache dabei anscheinend recht gut. Vielleicht gerade deshalb, weil ich anders vorging, als mir in gewissen Seminaren beigebracht worden war. Mein Hauptaugenmerk richtete ich nämlich immer auf den Menschen selbst aus, auf die Gruppe und auf das Team - als einer von ihnen.

So etwas funktioniert aber nur, wenn man sich mal mit Gruppendynamik beschäftigt hat. Deswegen gibt´s dieses Kapitel. Es ist keine Handlungsanleitung. Aber eine durch Erfahrungen stark eingefärbte Bescheibung der Gruppendynamik, vornehmlich in der Arbeitswelt. Einleitung: Gruppendynamik beschreibt das Miteineinander verschiedener Menschen mit unterschiedlichen Eigenschaften und Fähigkeiten - ihre Wechselwirkungen und ihr Verhalten. Gruppendynamik ist geprägt durch differierende Mentalitäten und durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher sozialer Herkünfte und unterschiedlicher sozialer sowie pädagogischer Erfahrungen. Werden die individuellen sozialen Bedürfnisse vernachlässigt, dann entstehen Frustration und Ärger. Es wird davon ausgegangen, dass die Eigenschaften und Fähigkeiten einer Gruppe verschieden sind von der Summe der Eigenschaften und Fähigkeiten der einzelnen Personen der Gruppe. Es existieren verschiedene Gruppenmodelle. Sie versuchen, Gesetzmäßigkeiten in Gruppen zu beschreiben.

Die Ausführungen dieser Webseite stützen sich auf das sogenannte "Phasenmodell". Das Kennenlernen der einzelnen Gruppenmitglieder untereinander, sei es auf einer Arbeitsstelle, in einem Seminar, bei einer Reisegesellschaft, im Verein, in einer Diskussionsrunde usw. geschieht nach dem "Phasenmodell der Gruppendynamik":

   1. Die Fremdheitsphase
   2. Die Machtkampfphase
   3. Die Vertrautheitsphase
   4. Die Differenzierungsphase
   5. Die Trennungsphase

Wenn man diese allgemeinen Erscheinungsformen kennt, dann ist das eine wertvolle Hilfe. Man kann sich bestimmte Verhaltensweisen der Mitmenschen besser erklären, kann Ursachen herleiten und darauf angemessen reagieren. Ein solches Modell birgt allerdings die Gefahr, den Gruppenprozess starr in ein Schema pressen zu wollen. Wichtig ist daher zu wissen, dass zeitlich andere Abläufe, eventuell sogar eine andere Reihenfolge der Phasen, möglich sind.



Die Fremdheitsphase:

Die Femdheitsphase ist dadurch gekennzeichnet, daß es bisher keine gemeinsamen Erlebnisse gegeben hat - man kennt sich nicht. Diese Phase ist von großer Unsicherheit sowie von Ängsten geprägt und daher ein stark gefühlsorientierter Zeitraum. Ablehnung und Interesse auf der einen, positive Selbstdarstellung und unsichere Zurückhaltung auf der anderen Seite wechseln miteinander ab. Die Gefahr, etwas falsch zu machen oder falsch verstanden zu werden, ist extrem hoch. Zwischen den Gruppenmitgliedern gibt es eine große körperliche Distanz. Kommunikationsprobleme sind die Regel. Die Gruppenmitglieder erwarten daher von einer wie auch immer gearteten "Führungskraft" eine starke Präsenz, welche sich u. a. in Maßstäben (z. B. Informationen über die Randbedingungen) und in Orientierungshilfen äussert. Extrovertierte Menschen haben hier die Gelegenheit, sich in den Mittelpunkt zu stellen - unabhängig von ihren eigentlichen Fähigkeiten, welche durchaus die der anderen Gruppenmitglieder weit unterschreiten können.

Wer es dabei schafft, eine positive Atmosphäre zu erzeugen und zu etablieren und zudem noch - z. B. durch gezielten Aktionismus - für das Kennenlernen der Gruppenmitglieder untereinander sorgt, der steigt zum vorläufigen Gruppenführer auf. Dies setzt allerdings bereits eine gehörige Portion an Menschenkenntnis voraus, denn es ist nötig, die Fähigkeiten der einander unbekannten Gruppenmitglieder auf Anhieb richtig einzuschätzen und die Personen ihren Fähigkeiten entsprechend optimal einzusetzen - andernfalls ist Unzufriedenheit die Folge. Wenn in dieser Phase jemand (auch ungeachtet seiner Fähigkeiten, welche die der anderen Gruppenmitglieder durchaus übersteigen können) sehr zurückhaltend bleibt, dann wird ihm dieses Verhalten von den anderen als "Schwäche" ausgelegt und er hat die besten Chancen, sich später zum "Negativintegrator" (vgl. die Machtkampfphase) zu entwickeln.

Verstärkt wird diese Entwicklungsrichtung noch durch ein offensichtliches "Anderssein": zu klug, zu still, zu krank, zu sensibel, zu alt, u häßlich, zu dumm, zu jung, zu abweichende Interessenlage, zu erfahren usw. - denn "Anderssein" wird von der Gruppe als ausserhalb der Norm stehend, als Bedrohung betrachtet und eine Begründung für die Einstufung "Anders" lässt sich immer finden. Die Gruppe braucht jemanden zum Abreagieren, denn andernfalls kommt es irgendwann zum Aggresionsstau, dessen "Explosion" die gesamte Gruppe in Mitleidenschaft ziehen würde. Wenn jemand hingegen neu zu einer bereits etablierten Gruppe stösst, dann wird von ihm die Anpassung an die bestehenden Strukturen erwartet - nicht mehr und nicht weniger. Er wird zunächst mißtrauisch beäugt und häufig kontrolliert. Jede seinerseits vorgeschlagene Änderung bzw. Neuerung oder Selbstständigkeit wird als Störung, als "Anderssein" und damit als Bedrohung aufgefasst - stellt sie doch einen Verstoß gegen die schon vorhandenen "Gruppennormen" dar.

Ein "Neuankömmling" in einer bereits etablierten Gruppe tut folglich gut daran, sich zunächst einmal zurück zu halten, zumindest solange, bis das Mißtrauen ihm gegenüber abgeflaut ist (was z. B. in der Arbeitswelt gut und gerne ein paar Monate in Anspruch nehmen kann!).



Die Machtkampfphase:

In der Machtkampfphase hat ein erstes, zaghaftes Kennenlernen bereits stattgefunden und es herrscht ein (instabiler) "status quo" vor, in welchem die Gruppenmitglieder sich - zumeist unterbewusst - die Fragen stellen "Wer ist wie?", "Wer hat welche Rolle?", "Wo stehe ich?" und "Wo will ich hin?". Wer sich hier seiner selbst nicht sicher ist und Schwäche oder "Anderssein" zeigt, der wird sehr schnell zum Sündenbock, zum sogenannten "Negativintegrator".

Damit ist eine Zielperson gemeint, der seitens der Gruppe alles in die Schuhe geschoben werden kann, damit die Gruppe selbst ein vorgebliches "reines Gewissen" behält. Der Negativintegrator ist ein potentielles Opfer, welches zum Abreagieren von Aggressionen dient. In dieser Phase zeigen die Einzelnen eine stärkere Aktivität, um festere Beziehungen zu knüpfen. Es bilden sich Cliquen mit eigenen Normen, wobei sich der Stärkste aus allen Cliquen durchsetzt (Stichwort "Recht des Stärkeren"). Der bisherige Gruppenführer kann dabei durchaus "entmachtet" werden, sofern es ihm nicht gelingt, rechtzeitig Autorität zu beweisen. Letzteres kann geschehen, indem er Regeln aufstellt, wiederholt und kontrolliert, indem er Schwache (Negativintegratoren) in den Gruppenfindungsprozess mit einbindet und durch gemeinsame Aktionen ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugt. Der Gruppenführer muß - um als Führungskraft akzeptiert zu werden, Konflikte schnell erkennen und lösen können. Genau an diesem Punkt tut sich jedoch ein breites Problemspektrum auf. Konflikte erkennen (ganz zu schweigen vom Lösen) kann der Gruppenführer nur mit hinreichender Menschenkenntnis.

Mangelt es an der, dann polarisiert sich die Gruppe in die drei Bereiche Führung, Mitläufer und Aussenseiter. Die Führung ist extrovertiert, wird u. U. auch tyrannisch und befiehlt. Da sie sich (vielleicht auch nur unterbewusst) darüber im Klaren ist, angreifbar zu sein, trachtet sie danach, alles und jeden in der Gruppe zu kontrollieren. Freiräume und Abweichlertum darf es nicht (mehr) geben; alles muß formatiert und normiert sein, damit es permanent schnell und einfach kontrollierbar ist. Die Formatierung und Normierung wird einerseits durch Bestrafung und andererseits durch Manipulation erreicht. Die Kommunikation mit der Gruppe wird auf das absolut notwendige Minimum beschränkt, möglichst schriftlich in Schlagworten und Phrasen, um den anderen aus dem Wege gehen zu können. Die Gruppe selbst wird dadurch förmlich gelähmt. Sie ist desinteressiert und träge - ihr geht es nur darum, in Ruhe gelassen zu werden, um eigene Interessen verfolgen zu können. Der Ärger innerhalb der Gruppe wächst mit jedem Befehl, mit jeder Anweisung - und entlädt sich beim Negativintegrator (Beispiel: die Juden im Dritten Reich). Derartig konstitutionierte Gruppen tendieren dazu, narzisstisch veranlagte Personen aufzunehmen, Personen also, die sich gerne mit fremden Federn schmücken, die nach oben buckeln und nach unten treten ("Radfahrerpersönlichkeiten").

Gruppen mit einem nennswerten Anteil (>30%) solcher Persönlichkeiten reagieren nur noch, sie agieren nicht mehr. Engagement und Kreativität kann man von ihnen nicht erwarten. Letztlich führt dies zur Stagnation. Historische Beispiele wie bspw. der Mauerfall in Berlin belegen, daß derartigen Gruppen immer nur eine beschränkte Lebensdauer beschert ist, nämlich solange, bis die Gruppenmitglieder völlig entnervt aufbegehren. Typische aktuelle Beispiele für solche Gruppen sind (größenunabhängig) Unternehmens- und Behördenhierarchien. Die Vertrautheitsphase: Hat die Gruppe es vermeiden können, im Rahmen des Machtkampfs zu stagnieren, dann entwickelt sie normalerweise ein "Wir"-Gefühl und ist bereit, Eigenverantwortung zu übernehmen. Die einzelnen Mitglieder akzeptieren jetzt ihre Gruppenzugehörigkeit sowie die Rollenverteilung und sind daher für Neues aufgeschlossen. Die Gruppe beginnt selbst zu planen. In dieser "Brainstorming"-Zeit erweisen sich Gruppen als am kreativsten und als am produktivsten.



Die Vertrautheitsphase:

das sind exakt die Teams, die bspw. ein Unternehmen weiterbringen. Gerade deswegen und aufgrund ihrer leicht chaotischen Atmosphäre neigt eine Gruppe dieses Typs dazu, sich gegenüber anderen Gruppen abzugrenzen. Eine solche Abgrenzung ist zwar nötig, damit in der Gruppe Freiräume zur Selbstgestaltung gebildet werden können, doch darf die nicht auf Kosten anderer Gruppen (Abteilungen) erfolgen, sondern muß vielmehr fair und realistisch bleiben. Dies kann durch eine Gruppen-übergreifende Zusammenarbeit erreicht werden. Besondere Beachtung verdienen in dieser Phase die Aussenseiter. Sie tun sich nicht hervor und stehen nicht im Mittelpunkt.

Die Gruppe betrachtet sie meist als "nützliche Idioten" und mißbraucht sie als Negativintegratoren. Doch nur allzuoft ist es gerade der Aussenseiter, der den eigentlichen "Motor" der Gruppe darstellt, weil er aufgrund seiner "abweichenden Denkstruktur" genau im entscheidenden Moment die richtigen Impulse gibt, ohne welche die Gruppe auf der Stelle treten würde. Für die Gruppenführung bedeutet dies, daß sie präsent sein muß, um mit (viel) Einfühlungsvermögen gezielte Aktionen zur Integration und Unterstützung des Aussenseiters zu realisieren. Dabei kann es erfahrungsgemäß ausgesprochen hilfreich sein, den bisherigen Aussenseiter (wenn er denn die erforderlichen Fähigkeiten mitbringt) sogar zum Stellvertreter der Gruppenführung zu machen!



Die Differenzierungsphase:

In der Differenzierungsphase hat sich die chaotische Atmosphäre gelegt. Jeder wird mit seinen Stärken und Schwächen akzeptiert. Die Gruppe hat eine gute und kooperative Beziehungsatmosphäre; sie ist offen für die Kooperation mit anderen Gruppen. Interne Konflikte oder fachliche Probleme werden dabei gemeinsam bearbeitet. Eine solche Gruppe bildet ein selbstständig denkendes und selbstständig arbeitendes Team, welches nur noch weniger Führung bedarf. So etwas kann allerdings den Neid anderer (weniger gut funktionierender) Gruppen wecken, welche dann versuchen, Einfluß zu nehmen. Bei den Gruppen in der Differenzierungsphase treten häufig Einzelne in den Vordergrund, welche sich durch Spontanität auszeichnen. Es lohnt sich, solche Ideen aufzugreifen, denn sie sind i. d. R. aufgrund besserer Sachkenntnis von wesentlich ausgereifterer Natur als dies in der Vertrautheitsphase der Fall gewesen ist.

Dies birgt allerdings die Gefahr in sich, daß die Gruppe in mehrere kleine Cliquen, welche nur noch isoliert Einzelaspekte eines Problems bearbeiten, zerfällt. Hier gilt es, konstruktiv kritikfähig zu sein, den Überblick zu behalten und das Gruppengefüge zu wahren. Gezielte individuelle Gespräche sind dabei nicht nur hilfreich, sondern sie stärken auch die Selbstverantwortung der Gruppenmitglieder.



Die Trennungsphase:

Bei der Trennungsphase muß differenziert werden. Handelt es sich nur um eine von vornherein zeitlich begrenzt zusammengeführte Gruppe, dann bildet die Rückschau auf Gelaufenes, das Feedback, einen Teil vom Lohn der Arbeit. Vielleicht gibt es auch noch letzte Aktionen wie z. B. ein Abschlußtreffen mit Adressenaustausch, das Verabreden von Nachtreffen etc. Eine gewisse Angst (Coming-home-Effekt), gepaart mit hoher psychischer Belastung trotz vieler organisatorische Aufgaben, ist dabei völlig normal. Gänzlich anders hingegen sieht es in Hierarchien aus. Irgendwann hat sich hier eine Gruppe selbst überlebt und alles ist oder wird nur noch (langweilige) Routine, spätestens aber immer dann, wenn verdiente Mitarbeiter eine neue Führungspersönlichkeit vom Typ "jung, dynamisch und erfolglos" vor die Nase gesetzt bekommen: Jemanden, dessen Erfahrungen nur aus Theorie bestehen.

Dies ist die große Stunde der Narzissten, der "Chef-Chef-ich-weiss-was"-Typen, welche sich nicht scheuen, zum eigenen Vorteil ihre Kollegen in Mißkredit zu bringen. Das Arbeitsklima verschlechtert sich dadurch rapide, denn jeder belauert jeden - Zeit, um die eigentlichen Aufgaben bewältigen zu können, bleibt dadurch nicht mehr viel. Das widerum erhöht den Arbeitsanfall für den einzelnen Mitarbeiter und damit den Stress. Die Fehlerhäufigkeit steigt, wobei jeder Fehler eines einzelnen von den anderen gnadenlos ausgenutzt wird. Keiner aber wagt mehr, noch aufzubegehren oder etwas zu sagen. Das Arbeitsklima in Gruppen dieser Phase wird von weltfremden Gruppenführern im allgemeinen als "gut" beschrieben, denn niemand widerspricht ihnen und von den Radfahrerpersönlichkeiten hören sie nur noch das, was sie hören wollen. Letztlich kommt es dann, wie es kommen muß: Mitarbeiter, bei denen keine hohe Abfindung zu zahlen ist, werden gekündigt. Andere, für deren Ausscheiden dem Unternehmen im Kündigungsfalle höhere Kosten entstehen würden, werden "hinausgemobbt" oder solange mit Psychoterror überzogen, bis sie von selbst gehen oder krankheitshalber arbeitsunfähig geworden sind, die volkswirtschaftlichen Verluste dadurch treffen das Unternehmen ja nicht direkt und sind deshalb auch vernachlässigbar.

Was schliesslich bleibt, sind die Leute, die sich bislang immer irgendwie auf Kosten anderer "durchmogeln" konnten. Die müssen jetzt auf einmal etwas ihnen völlig Ungewohntes tun, nämlich selbst was leisten. Wenn sie scheitern, dann wird die Hierarchie, wird das Unternehmen in Mitleidenschaft gezogen. Wäre da nicht eine frühzeitige Umbesetzung, nämlich das Zusammenstellen einer neue Gruppe mit neuen Aufgaben unter Rückgriff auf die erfahrenen Mitarbeiter wesentlich produktiver gewesen? Um wievieles besser könnte eigentlich so manches Unternehmen laufen, wenn man auf der Führungsebene neben den Umsatzzahlen auch mal die Gruppendynamik ernsthaft beachten würde???



 
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